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Mehr für alle? Was die neuen Pflegegrade bringen

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Die alte Dame sitzt durcheinander in ihrem Sessel. Sie hatte in ihrem Leben stets pünktlich alle Rechnungen bezahlt, und nun kommt doch eine Art Gerichtsvollzieher zu ihr. Er entscheidet über ihre Zukunft, kann geben und nehmen, stellt intime Fragen und kommt vom Amt. Nach seiner Entscheidung steht fest, wie viel der Dame noch von ihrer Rente bleibt, um zur Fußpflege zu gehen und ihren Enkeln ein Geburtstagsgeschenk zu geben.

Das neue, zweite Pflegestärkungsgesetz, das der Arbeit dieser Pflegegutachter ab dem 1. Januar 2017 zugrunde liegt, hat auch ein neues Leitmotiv. Nicht wie bisher die Minuten und Sekunden, die bestimmte Abläufe in der Pflege erfordern, werden akribisch erfasst und dann pauschal auf Millionen von Pflegebedürftigen umgelegt. Künftig wird allgemein ermittelt, wie selbständig oder eingeschränkt eine bestimmte Person ist.

Gesundheitsminister Gröhe verspricht „mehr Hilfe für Pflegebedürftige, eine bessere Absicherung der vielen pflegenden Angehörigen und mehr Zeit für die Pflegekräfte“. Muss die alte Dame den Termin, an dem über ihren Zustand befunden wird, tatsächlich fürchten? Was bedeuten die neuen Regelungen für Pflegeheime und ambulante Pflegedienste?

Wie die Pflegeversicherung eingeführt wurde

Helmut Blüm kämpfte in den letzten zwei Jahren der Legislaturperiode, die 1995 enden würde. Der Sozialminister wollte noch ein großes Projekt durchsetzen, um Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen, die zu den Schwächsten und Hilflosesten in der Gesellschaft gehören: die Pflegebedürftigen. Helmut Kohl unterstützte ihn, obwohl seine Gedanken meist um die historische Wiedervereinigung kreisten.

Doch Helmut Blüm hatte einen mächtigen Gegner. Die Wirtschaftsverbände scherten sich nicht darum, dass 80 % der Bewohner von Pflegeheimen von der Sozialhilfe lebten, wie damals das heutige ALG II oder ‚Hartz 4‘ hieß. BDI & Co. wollten auf keinen Fall weitere Sozialabgaben zahlen. Würde sich Blüm durchsetzen können?

Pflege nach Bedarf, nicht nach Zeitplan

Denn Pflegeleistungen sind teuer, weil viele Menschen, die nicht mehr alleine zurechtkommen, jeden Tag über einen längeren Zeitraum Hilfe benötigen: für den Toilettengang, die Körperwäsche oder das Ankleiden. Manche können nicht mehr alleine essen. Wer keine Orientierung mehr hat und verwirrt ist, benötigt den ganzen Tag lang zumindest Beaufsichtigung zum Schutz.

Gerade diese geistigen Beeinträchtigungen wirken sich ununterbrochen aus. Der bisherige Ansatz in der Pflegevergütung, für bestimmte Leistungen eine exakte Dauer vorzuschreiben, ist so, als ob der Staat Kindergärten nur für eine bestimmte Anzahl von Laufschritten pro Kind und Tag förderte. Wie Kinder Bewegungsdrang haben, der nicht bemessen werden kann, brauchen Pflegebedürftige Hilfe in Abhängigkeit von ihrer Situation, nicht von der Uhr.

Die neuen Pflegegrade gemäß dem zweiten Pflegestärkungsgesetz berücksichtigen das. Insbesondere werden mit ihnen künftig auch kognitive und psychische Einschränkungen betrachtet, die Menschen ähnlich unselbständig machen wie körperliche Behinderungen.

Die Ermittlung der Pflegebedürftigkeit

Überhaupt ist der Grad der Unselbständigkeit in Zukunft das zentrale Kriterium, um individuell einzuschätzen, wie sehr Pflegende Menschen im Alltag unterstützen müssen. Von den sechs Bereichen, die der Pflegegutachter bewertet, hat die Unselbständigkeit das größte Gewicht. Dieser Bereich wird bislang Grundpflege, künftig Selbstversorgung genannt und derzeit noch als einziger für die Bewertung der Pflegebedürftigkeit herangezogen:

  • Mobilität 10 %
  • Kognitive und kommunikative Fähigkeiten bzw. Verhalten und psychische Probleme 15 % (nur der als schwächer zu bewertende Aspekt zählt)
  • Selbstversorgung 40 %
  • Eigenständiger Umgang mit Behandlung und Therapie 20 %
  • Alltagsgestaltung und soziale Kontakte 15 %

Die Einstufung ist also differenzierter als bisher und umfasst mehr Themenfelder. Daher erhalten künftig unabhängig von der demographischen Entwicklung mehr Menschen Pflegeleistungen. Neu ist dabei der niederschwellige Pflegegrad 1. Angehörige von in ihn eingestuften Menschen erhalten Beratungen, die Bedürftigen selbst Sachleistungen.

Wie Pflegestufen in Pflegegrade umgerechnet werden

Für alle Menschen, denen bereits jetzt eine Pflegestufe zugeordnet ist, erfolgt die Umstellung nach einem Schlüssel automatisch. Ein Antrag ist nicht erforderlich, aber möglich, damit etwa kognitive Einschränkungen, die bislang keine Rolle spielten, mitberücksichtigt werden. Dabei wird kein Pflegebedürftiger schlechter gestellt. Eine Person, die bisher die Pflegestufe II hatte, hat so zum Beispiel künftig den Pflegegrad 3.

Der Eigenanteil, den die zu Pflegenden übernehmen müssen, ist in Zukunft in den Pflegegraden 2 bis 5 gleich. Damit entfällt ein Streitpunkt zwischen Heimen und Angehörigen, denn bislang hatten beide Seiten auseinandergehende finanzielle Interessen, wenn eine Person eingestuft wurde. Zugleich steigt der Anreiz für Angehörige, nur in geringem Umfang auf Hilfe Angewiesene (Pflegegrad 1) selbst zu pflegen, da für sie der Eigenanteil überproportional hoch ist. Wer ausschließlich körperliche Beschwerden hat und bislang noch in keiner Pflegestufe ist, könnte zudem aufgrund des neuen Bewertungsrasters weniger Leistungen erhalten als Menschen in ähnlicher Lage heute, solange er noch relativ selbständig ist.

Die Ausrichtung der Pflegeheime auf stark pflegebedürftige Personen ist politisch gewollt. Damit steigen sowohl die Belastung der Pflegekräfte als auch tendenziell deren Anzahl, da für höhere Pflegegrade ein höherer Personalschlüssel vorgeschrieben ist.

Wer zahlt das eigentlich alles?

An einem Tag in der zweiten Novemberhälfte, wenn die Bäume ihre Blätter schon abgeworfen haben und die Natur ihre Winterruhe einlegt, bevor sie einen neuen Lebenszyklus beginnt, leisten in Deutschland alle Arbeitnehmer eine besondere Unterstützung für die ältesten Mitglieder ihrer Gemeinschaft: Am Buß- und Bettag arbeiten sie seit 1995.

Helmut Blüm hatte sich durchgesetzt, die Pflegeversicherung kam als dritte verpflichtende Sozialversicherung. Eigentlich wollte die FDP, die in Bonn die Interessen der Wirtschaft vertrat, dass dafür zwei Feiertage gestrichen werden. Es blieb bei dem einen. Und so zahlen die Arbeitgeber bis heute nur auf dem Papier die Hälfte der Pflegeversicherungsbeiträge von 2,35 %, die ab 1. Januar 2017 auf 2,55 % (2,8 % für Kinderlose) angehoben werden. Tatsächlich übernehmen einen guten Teil davon die Arbeitnehmer, die am Buß- und Bettag nun arbeiten, statt wie zuvor mit ihrer Familie im Herbstnebel spazieren zu gehen.

Die Ausweitung der Leistungen durch die Pflegeversicherung, die nun erfolgt, kostet fünf Milliarden Euro pro Jahr. Sie wird vollständig durch die Beiträge abgedeckt. Abzüglich der Verwaltungskosten fließt dieses Geld zusätzlich in die Pflegebranche, die somit deutlich wächst.

Was auf Heime und Pflegedienste zukommt

Auf die Heime und mobilen Pflegedienste kommt also viel Arbeit zu – aufgrund der Umstellung, aber auch, weil mehr Menschen Leistungen beziehen werden und deren Umfang zunimmt. Pflegebedürftige in Heimen haben nämlich künftig auch einen Rechtsanspruch auf Betreuungsangebote. Viele Unternehmen beschäftigen dafür aber bereits Fachkräfte. Ab 2018 wird zudem ein aussagekräftigerer ‚Pflege-TÜV‘ eingeführt, der die Qualität der Pflege überprüft.

Wenn einzelne Pflegebedürftige künftig mehr Unterstützung benötigen und daher in einen höheren Pflegegrad kommen, ist das für Pflegeeinrichtungen aber auch ein Risiko, denn der Pflegeschlüssel wächst nicht proportional zu den Leistungen für die Pflegegrade, sondern stärker. Eine Beispielrechnung zeigt, dass eine Unterdeckung eintreten kann, wenn etwa mehrere Bewohner einer Station dauerhaft mehr Zuwendung brauchen.

Die Pflegegutachterin ist eine nette Beraterin

Die alte Dame, bei der sich der Pflegegutachter angekündigt hat, braucht jedenfalls keine Angst zu haben. Pflegegutachter sind ausgebildete und erfahrene Fachkräfte, die auch beraten. Anders als Gerichtsvollzieher, die Interessen anderer vertreten, sollen sie dafür sorgen, dass der Pflegebedürftige angemessene Hilfe bekommt. Die Kriterien, nach denen sie beurteilen, sind kompliziert, aber objektiv.

Ob mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz und den neuen Pflegegraden die Versorgung der Hilfsbedürftigen verbessert und Schwächen an Blüms Entwurf beseitigt werden, kann nur die Zeit zeigen. Dass Gröhe nur inhaltliche Diskussionen führen musste, die Pflegeversicherung selbst aber mittlerweile allseits anerkannt ist, spricht für sie.

Haben Sie schon über alle Änderungen nachgedacht, die sich durch das Pflegestärkungsgesetz II für Ihre Pflegekräfte sowie in der Organisation und Planung ergeben?

Hans Kopp befasst sich seit seinem Zivildienst in einem Dresdner Pflegeheim kontinuierlich mit Themen, die Medizin und Pflege betreffen, und schreibt darüber. Er raucht nicht, trinkt nicht, treibt öfter Sport und duscht stets kalt. Seine Angehörigen finden trotzdem, dass er zu oft über seine Wehwehchen jammert – vielleicht, weil er sich zu viel mit Krankheiten befasst.
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